Literaturtipp:

Ausgeliefert

Orry Mittenmayer

Über Arbeitskämpfe bei Lieferdiensten, soziale Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt und die Relevanz gewerkschaftlichen Engagements für gesellschaftlichen Zusammenhalt

Wer sich bei Start-Ups und Betreibern digitaler Plattformen wie Lieferdiensten nach Betriebsräten umschaut, wird in der Regel selten fündig – oftmals mit dem Verweis, dass das nicht der „modernen und offenen Unternehmenskultur“ entspräche. Menschen wie Orry Mittenmayer fordern diesen Mythos jedoch heraus: „Mitbestimmung in Betrieben ist keine Frage des Lifestyles, sondern ein demokratisches Grundrecht.“ Mittenmayer arbeitete als sogenannter Rider bei der Firma Deliveroo und war in dieser Zeit Mitgründer und Vorsitzender des deutschlandweit ersten Lieferdienst-Betriebsrats. Im Zuge dessen hat er auch die bundesweit beachtete Kampagne „Liefern am Limit“ mitinitiiert, die auf die schwierigen Arbeitsbedingungen in der Branche aufmerksam gemacht und mit Unterstützung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) schließlich zur Gründung weiterer Betriebsräte bei Lieferando in ganz Deutschland geführt hat.
In seinem Buch Ausgeliefert beschreibt Mittenmayer die enormen Widerstände von Unternehmensseite, die mit der Betriebsratsgründung einhergingen, und die Erfahrungen, die er als Rider bei verschiedenen Lieferdiensten gemacht hat: ständiger Zeitdruck, fehlende Pausen, geringe Bezahlung, hohe Unkosten für die eigenen Arbeitsmittel, Unsicherheit durch befristete Verträge, hohes Unfallrisiko und vieles mehr. Das ist allerdings nur ein Teil der Erzählung. Er geht viel tiefer und zeigt anhand seines Werdegangs, welchen Herausforderungen ein schwarzer Deutscher aus einer weißen Arbeiterfamilie mit einer schweren Hörbehinderung im Bildungssystem und im Berufsleben gegenübersteht. Mittenmayer bettet dabei seine und die Erfahrungen seiner Kolleg:innen in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang ein. So vermittelt er eindrücklich, wie rassistische, ableistische und klassistische Mikroaggressionen und Diskriminierungen intersektional ineinanderwirken und wie vielen Menschen in diesem Land aufgrund der sozialen Herkunft oder des Migrationsstatus oftmals keine Alternative zum Niedriglohnsektor bleibt.
Gewerkschaften spielen in dieser Lebensrealität bisher noch eine viel zu geringe Rolle. Mittenmayer zeigt jedoch, wie sie der Schlüssel für Selbstermächtigung sein können, um prekären Arbeitsverhältnissen eben nicht ausgeliefert zu sein. Sein Erfahrungsbericht, in Verbindung mit seinem humorvollen Erzählstil, klaren politischen Reflexionen, aber auch selbstkritischen Beobachtungen, wird dadurch zu einer packenden Lektüre. Ausgeliefert: ein eindrücklicher Appell für gewerkschaftliches Engagement, das neue Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit findet.


Ausgeliefert
von Orry Mittenmayer

Wie Lieferdienste ihre Fahrer ausbeuten, warum uns das alle ärmer macht – und was wir dagegen tun können
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2024
Gebunden, 224 Seiten
18,00 Euro

Link zum Buch und Verlag