„Anerkennungsverluste gehen an die Substanz“
SZ Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, 10.07.2023
SZ Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, 10.07.2023
Was sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Aufstieg der AfD? Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer über Statusängste, kulturelle Veränderungen und autoritären Nationalradikalismus.
Wilhelm Heitmeyer ist nicht überrascht von den jüngsten Wahlerfolgen der AfD – aber er hat einige Erklärungen dafür. Der Soziologe, einer der wichtigsten Rechtsextremismus-Forscher der Bundesrepublik, untersucht seit Jahrzehnten die Entwicklung autoritärer Einstellungsmuster und die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Neuen Rechten.
Wilhelm Heitmeyer: Das hat er mit Sicherheit. Aber zunächst müssen wir die Begrifflichkeiten klären. Es ist ungenau, wenn die AfD immer wieder verharmlosend als rechtspopulistisch gekennzeichnet wird. Jetzt wird auch die Verlegenheitsformel als „in Teilen rechtsextrem“ verwendet. Aber zum klassischen Rechtsextremismus gehört demonstrative Gewaltbereitschaft und Gewaltakzeptanz. Die AfD beschränkt sich auf verbale Enthemmung und eine rabiate Form der Mobilisierung und Kommunikation. Das ist ohne Frage aggressiv und gesellschaftszersetzend, aber die AfD kommt in ihrer Selbstdarstellung in der Regel ohne die rechtsextreme Gewaltattitüde aus. Deshalb hat die Einordnung der Partei als rechtsextremistisch ihren Schrecken verloren, zumindest bei Teilen der Bevölkerung. Indem man die AfD als „rechtsextrem“ bezeichnet, erreicht man bei dieser Klientel nicht ihre Stigmatisierung, sondern das Gegenteil, eine Entstigmatisierung des Rechtsextremismus und eine Solidarisierung mit der AfD. Die Normalisierung erleichtert der AfD das angestrebte Eindringen in Institutionen.
Das Erfolgsrezept der AfD ist der autoritäre Nationalradikalismus. Das Autoritäre zeigt sich in der Betonung eines gesellschaftlichen Ordnungsmodells mit klaren Hierarchien, der Begrenzung vielfältiger Lebensformen und in dichotomischen Weltbildern, das „Eigene“ gegen „das Fremde“. Das Nationalistische zeigt sich in Vorstellungen einer Überlegenheit der deutschen Kultur, der Forderung „Deutschland zuerst“ und einer Neuausrichtung „deutscher“ Geschichtsschreibung. Das Deutschsein wird zum zentralen Identitätsanker. Anders als der offen gewaltaffine Rechtsextremismus ist dieser autoritäre Nationalradikalismus auch für viele Wähler attraktiv, die sich nie mit grölenden Neonazis gemein machen oder eine Partei wie die NPD wählen würden.
Dadurch ist sie anschlussfähig und akzeptabel für ein Milieu, das ich rohe Bürgerlichkeit nenne. Hinter einer glatten Fassade bürgerlicher Respektabilität wird dort ein Jargon der Verachtung gepflegt. Der autoritäre Nationalradikalismus verstärkt und bedient dieses Ressentiment gegen Fremde, aber auch zum Beispiel gegen sozial Schwache, gegen Homosexuelle und andere Minderheiten. Die Anziehungskraft der AfD für diese rohe Bürgerlichkeit macht mir große Sorgen, weil die Partei dort ihr Potenzial noch nicht ausgeschöpft hat. Dort kann sie vermutlich auch in Westdeutschland noch wachsen.
Das ist unübersehbar. Identitätspolitik ist im Grunde Abgrenzungs- und Ausgrenzungspolitik. Mit der aggressiven Behauptung einer Gruppenidentität werden Gruppengrenzen verhärtet. Das macht die AfD attraktiv für autoritär geprägte Personen, die in ihrer Biografie harte Brüche und Anerkennungsverluste erfahren haben. Auf der sozialen Ebene kann einem vieles abhandenkommen – der Arbeitsplatz, der Status, die soziale Sicherheit oder die Familie. Aber das Deutschsein kann einem niemand nehmen. Desto brüchiger die soziale Sicherheit wird, desto wichtiger werden für Teile der Bevölkerung solche Identitätsanker. Die entsicherten Jahrzehnte des Neoliberalismus mit der schleichenden Demontage des Sozialstaates waren eine entscheidende Voraussetzung für die Anziehungskraft des autoritären Nationalradikalismus.
Der aggressive Nationalismus soll Statusängste kompensieren?
Wer sich anerkannt fühlt, muss sich zumindest nicht am Identitätsanker des autoritären Nationalradikalismus aufrichten. Dabei geht es nicht nur um ökonomische Anerkennungs- und Kontrollverluste. Auch wenn man seine Umgebung nicht mehr versteht und sich von den unterschiedlichen Lebensentwürfen in einer pluralistischen Gesellschaft überfordert fühlt, kann das als Kontrollverlust erlebt werden. Das ist eingebettet in die Erfahrung gesellschaftlicher Krisenentwicklung. Krisen sind erstens dadurch gekennzeichnet, dass vielfach die herkömmlichen Instrumente der Politik nicht mehr schnell funktionieren, und zweitens dadurch, dass die Zustände vor den Krisen nicht wieder herstellbar sind. Daraus ergeben sich für Teile der Bevölkerung erhebliche Kontrollverluste über ihre Biografien. Menschen mit Kontrollverlusten sind besonders anfällig für Verschwörungstheorien. Das Versprechen der AfD, „wir stellen die Kontrolle wieder her“, „wir holen uns unser Land zurück“, reagiert genau auf diese Kontrollverluste. Das ist wirksam, auch wenn diese Fiktion der Rückkehr in ein irgendwie besseres, vertrautes, geordnetes Früher völlig illusionär ist.
Man muss verschiedene Wählergruppen unterscheiden. Eine Gruppe sind autoritär geprägte Personen mit Anerkennungsverlusten. Das ist eine Erklärung für den Erfolg der AfD in den ostdeutschen Bundesländern. In empirischen Erhebungen sieht man, dass sich dort immer noch viele Menschen als Wendeverlierer verstehen. Eine weitere Gruppe sind die Nicht-Wähler, die die AfD mit der rabiaten Emotionalisierung sozialer Probleme aus ihrer wutgetränkten Apathie holt. Dazu kommt eine inzwischen stabile Gefolgschaft bei Handwerkern, Industriearbeitern, auch bei Gewerkschaftsmitgliedern, die früher vielleicht SPD gewählt haben. Das ist von den Gewerkschaften viel zu spät erkannt worden. Die vierte Gruppe ist das schon das erwähnte Milieu der rohen Bürgerlichkeit.
Auch wenn der Arbeitsplatz und der soziale Status gesichert sind, können Erfahrungen des Anerkennungsverlusts wirksam werden. Das ist auch eine Frage der politischen Kultur und des Gefühls, nicht wahrgenommen zu werden, keine Repräsentanz zu besitzen, nicht nur politisch, sondern auch und gerade kulturell. Wer sich nicht wahrgenommen fühlt, der ist ein Nichts. Dann sucht man sich andere Anerkennungsmöglichkeiten jenseits des etablierten Angebots. Das Versprechen der AfD, „wir holen uns dieses Land zurück“, bedeutet hier: Wir machen euch wieder sichtbar.
Diese Repräsentationslücke muss man durchaus ernst nehmen. Neuere empirische Erhebungen, etwa von Oliver Decker an der Universität Leipzig, zeigen, dass eine Mehrheit der Ostdeutschen sich ohne politischen Einfluss fühlt und die Sicherheit einer autoritären Staatlichkeit wünscht. Eine Reaktion darauf ist der Rückzug in die wutgetränkte Apathie. Für solche Leute ist die AfD natürlich attraktiv. Offenbar wird es in bestimmten Milieus als Bedrohung erlebt, wenn in den Medien gerne etwas buntere, nicht traditionelle Lebens- und Familienformen gezeigt werden. Das äußert sich dann zum Beispiel in der aufgeregten und aufgeladenen Debatte um das Gendern, zum Beispiel im Fernsehen. Wenn Herr Aiwanger von den Freien Wählern für sich in Anspruch nimmt, für die „normalen Leute“ zu sprechen, ist das eine ähnliche Rhetorik wie bei der AfD. Diese Behauptung von „Normalität“ ist anmaßend und ausgrenzend, aber man versteht, was damit gemeint ist: Viele Leute fühlen sich in ihren Lebensformen und kulturellen Präferenzen nicht mehr repräsentiert. Dieses Anerkennungsbedürfnis muss man ernst nehmen.
Absolut. Identitätspolitik arbeitet immer mit Ausgrenzung, mit Nicht-Anerkennung des Differenten. Das hat gesellschaftszerstörerische Elemente. Das gilt auch für eine linke Identitätspolitik, die mit Feindbildern operiert.
Was die Ursachen des Erfolgs der AfD angeht, ist das viel zu oberflächlich. Aber die erhebliche Differenz dessen, was die Medien abbilden, zur Alltagsrealität ziemlich großer Bevölkerungsgruppen sollte man in ihrer Wirkung nicht unterschätzen. Das kann Gefühle von Fremdheit, Überforderung, Missachtung auslösen. Aber kulturelle Veränderungen sind immer von solchen Fremdheitsgefühlen begleitet. Die Antwort darauf kann ja nicht sein, jede Veränderung abzuwehren und sich regressiv in die Bundesrepublik etwa der 1950er-Jahre zurückzusehnen, in ein Land ohne Migranten, ohne Gleichberechtigung für Frauen und Homosexuelle und ohne die Folgen der Globalisierung.
Das ist ganz offenkundig. Das lässt sich nicht mehr mit ein paar symbolischen Gesten einfangen, mit einem Heimatschutzministerium oder einer kleinen Rentenerhöhung. Anerkennungsverluste gehen an die Substanz der Person. Niemand kann ohne Anerkennung leben. Traditionelle Lebensformen bieten ja gerade in Zeiten von Kontrollverlusten einen Stabilitätsfaktor. Es ist kein Zufall, dass die AfD in Sozialräumen von starker sozialer und kultureller Homogenität besonders erfolgreich ist, im ländlichen Raum, in Dörfern und Kleinstädten. Diese Homogenität erfordert Konformität, wird aber auch als Schutz, als Geborgenheit erlebt. Der Schutzraum der Homogenität und Konformität wird von Teilen der Bevölkerung aggressiv gegen eine als Bedrohung wahrgenommene Veränderung verteidigt. Auch deshalb zeigen unsere Untersuchungen dort besonders ausgeprägte Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.
Diese autoritären Einstellungsmuster haben wir in unseren Langzeitstudien schon lange vor Gründung der AfD beobachtet. Die Wähler vagabundierten damals zwischen den großen Volksparteien oder wanderten in die Nichtwählerschaft. Jetzt haben sie eine feste Anschlussstelle und artikulieren sich politisch in Wahlentscheidungen für die AfD. Die AfD trägt erfolgreich dazu bei, solche Einstellungsmuster zu verfestigen und zu radikalisieren.
Überhaupt nicht. Deshalb ist es auch verkürzt und naiv, das einfach als Protestwahl zu verharmlosen. Das war seit Gründung der AfD immer wieder eine fatale Beruhigungsformel. Wir müssen angesichts von Krisen und Kontrollverlusten damit rechnen, dass der autoritäre Nationalradikalismus ein Erfolgsmodell ist.
Interview: Peter Laudenbach
„Das Nationalistische zeigt sich in Vorstellungen einer Überlegenheit der deutschen Kultur.“
„Identitätspolitik arbeitet immer mit Ausgrenzung, mit Nicht-Anerkennung des Differenten.“
Wilhelm Heitmeyer, 78, war von 1996 bis 2013 Direktor des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Er veröffentlichte die Studien „Rechte Bedrohungsallianzen“ und „Autoritäre Versuchungen“.
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